LEBEN IM OSTEN

Vor etwas mehr als zwei Jahren bin ich nach Frankfurt (Oder) gezogen, nachdem ich knapp 8 Jahre lang in der südwestdeutschen Provinz zugebracht hatte. Damals kam dieser Wechsel für einige überraschend, andere sagten, sie verstünden das, denn ich würde (als In-Karl-Marx-Stadt-Geborene) wieder in meine Heimat zurückgehen. Ich widersprach. Weil ich damals keinerlei heimatliche Bindung an Frankfurt (Oder) hatte. Weil ich viele Heimaten und nicht nur eine habe. Und ich betonte, dass ich in den Osten der Republik gehen wolle, weil ich das Gefühl hatte, dass es jetzt an der Zeit wäre, statt Geld oder guten Ratschlägen, dem Osten etwas, was es wirklich braucht, zurückzugeben: Menschen, die Lust auf den Osten haben. Vor Ort sein und etwas bewirken. Aus der Komfortzone der westlichen Wohlstandsgesellschaft in eine auch infrastrukturell prekär erfahrbare Grenzregion zu gehen, wo sowohl Polen als auch Deutsche leben und sich austauschen. Ich habe begonnen, Polnisch zu lernen, weil ich gespürt habe, dass mehr Polen Deutsch sprechen, als Deutsche Polnisch. Und, dass es die Polen schätzen, wenn man sich bemüht, in ihrer Sprache zu sprechen, wenn man sich etwas von ihnen wünscht, so wie es umgekehrt auch die Deutschen tun. Ich habe meinen ersten Wohnsitz in Frankfurt (Oder) genommen, ohne ansatzweise mit Berlin darüber zu verhandeln. Weil es mir wichtig war, ein klares Bekenntnis zu der Stadt, in der ich arbeiten sollte und mein Auskommen haben würde, zu signalisieren.

Kurz nach meiner Ankunft kam die Bundestagswahl 2017, bei der ich aufgrund problematischer nicht lösbarer behördlicher Vorgänge, meine Stimme nicht abgeben konnte. Ein verbaler Aufstand im Rathaus nützte nichts. Und ich sah damals mit Schrecken die Wahlergebnisse, bei denen die Rechtspopulisten mehr als 20% der Stimmen bekamen. Daraufhin beobachtete ich mich, wie ich im Supermarkt, in der Schlange stehend, zählte, wieviele um mich herum wohl die Rechtspopulisten gewählt haben mussten. Und ich mittendrin. Das war gruselig. Das Wundern darüber, wie ein an das Gute denkender Mensch zu solchen Entscheidungen kommen kann, hört bis heute nicht auf. Zu dem Entsetzen gesellt sich Unverständnis. Ich ärgere mich und ich protestiere. Nicht, in dem ich auf die Straße gehe, zum Teil einer Bewegung, einer bunten Masse werde, die größer und sichtbarerer sein will, als das braune Gift, welche sich auf recht eklige Weise durch die Ritzen dieser Gesellschaft quetscht. Noch mehr bedeutet mir, eine Haltung zu haben und diese neben angesagten Vor- und Nachwahlaktivitäten auch im alltäglichen Leben zu behaupten. Dableiben, wenn andere Fluchtimpulse verspüren. Ich glaube daran, dass wenn ein jeder Verantwortung für sich, sein Handeln und die damit verbundenen Konsequenzen übernimmt, wir in einem besseren Ostdeutschland leben können.

 

 

BIS ZUM ANFANG ZURÜCKGEHEN! DIE BESONDERHEITEN DIESES ANFANGS!!

Wo anfangen? Wann beginnt etwas zu beginnen?

Vor acht Monaten bin ich von der genüsslich-gemütlichen Schwäbischen Alb ins Brandenburgische Flachland nach Frankfurt (Oder) gezogen. Seither habe ich immer wieder, mal mehr, mal weniger, darüber nachgedacht, wie ich diesen Blog beginne und worüber ich hier schreiben möchte. Beim Darüber-Nachdenken sind mir die Zeilen „BIS ZUM ANFANG ZURÜCKGEHEN! DIE BESONDERHEITEN DIESES ANFANGS!!“ des im letzten Jahr verstorbenen Künstlers A.R. Penck wieder in den Sinn gekommen.

Die Galeristin Hedwig Döbele hatte mich vor rund einem Jahr bei meinem Besuch der Malstrom-Ausstellung unter anderen Dingen auf sein Büchlein „Mein Denken“ (hrsg. von Klaus Gallwitz, 1986) aufmerksam gemacht. Neben den großformatigen ausgestellten neoexpressionistischen Arbeiten der Malstrom-Künstler*innen blieb es von den meisten Besuchern weitestgehend unbeachtet.

Ich setzte mich in den Wintergarten der Galerie und begann darin zu blättern. Zurück in Albstadt, wo ich zu diesem Zeitpunkt noch lebte, bestellte ich es antiquarisch, legte es nach seinem Eintreffen auf das Bücherregal, ließ es aber bis auf wenige vereinzelte Male bis heute unreflektiert.

Nun greife ich es wieder auf, betrachte es und finde diese Zeilen auf der fünften Seite des Buches. Penck hatte sein Skizzenbuch mit den verbildlichten Denk- und Zeichnungsprozessen also bereits begonnen, bis er sich inmitten dieser mit dem Kommentar aus Groß- und Druckbuchstaben, von einfach und doppelten Ausrufezeichen beschlossen, eine regelrechte Zäsur, eine Art Denk-Pause, verordnete.

In Analogie zu Penck stecke ich (allerdings nach knapp 8 Monaten statt 5 Seiten)  in der deutsch-polnischen Doppelstadt Frankfurt/Słubice auf gänzlich neuem Terrain inmitten eines Erkundungs- und Erfahrungsprozesses, von dem aus ich nun versuche, zurückzukehren, zu seinen Anfängen.

Die Besonderheiten dieses Anfangs: in einer offenen Stadtmitte ein kühles Gefühl durch zersprengte Vereinzelung unterschiedlichster Gebäudetypen aus verschiedenen Zeiten. Daneben multiple sichtbare Versuche, Menschen und Märkte in Einkaufszentren zusammenzuführen. Autonomer Kosmos Europa-Universität Viadrina. Hochhäuser und Spitzgiebel im Wechsel zeichnen die unverwechselbare Stadtsilhouette. Ausnahmsloser Dialog und dichtes Gedränge von bildender Kunst und Architektur in der Großen Scharrnstraße. Glockenschlag von St. Marien, die Stadt hat einen Klang. Tausende Pendler in die und aus der Stadt lassen Frankfurt wochentags wie einen blasebalgähnlichen Organismus an- und wieder abschwellen. Die Magistrale verläuft flussbreit, als eines von lediglich drei eingetragenen Denkmäler aus der DDR-Zeit in Frankfurt, parallel zur Oder. Es fließt, bewegt sich, aneinander vorbei. Man ist froh, wenn man sich vor den Wind-, Wasser- und Verkehrsströmen auf eine Insel retten kann.

Meine persönlichen Entschleunigungs- und Genussinseln in Frankfurt (Oder): das Brandenburgische Landesmuseum für moderne Kunst, das Kleistmuseum, das kürzlich wiedereröffnete Hochhausrestaurant im Oderturm, der Ziegenwerder und Lennépark, Brot & Zucker, WG-Bar, verbündungshaus fforst, Antiquariat Richter im Haus der Künste, das ehem. Musikheim-Areal, Paulinenhofsiedlung, St. Georg, die Vorstädte, Fischerstraße, das Kleine Kino-Programm, Musik des Brandenburgischen StaatsorchestersSMOK, Pyszna Chata in Słubice, die Oder … to be continued …